Mäandern
Die Entdeckung der Umwege
Wer auf der bequemen Staatsstraße von Osten auf Hauzenberg zufährt, der begleitet eine Weile den Staffelbach. Na ja, begleitet ist vielleicht das falsche Wort, denn die Staatsstraße hastet schnurgerade dahin, während der Bach sichtlich ohne Eile nach beiden Seiten ausgiebige Abstecher macht und auf diese Weise natürlich völlig verspätet beim Freudensee ankommt. Wie sollte da eine Verständigung, ein Austausch, ja ein Miteinander stattfinden? Höchstens ein rascher Blick durch das Seitenfenster, bevor die Eile uns wieder für sich beansprucht. So nebenbei, dass der Bach uns nicht einmal bemerkt, wenn er der Schwerkraft maximal trotzend dahinmäandert, zeitlos.
Die Zeit ist wie eine Einmalzahlung, ein einmaliger Lottogewinn, von dem wir ein Leben lang zehren bis wir mit dem letzten Stück das Leben aufgeben. Der Tod, so sagen wir gerne, als gäbe es ihn. Der Tod entreisst uns dem Leben. Wenn das letzte Sandkorn in den unteren Behälter der Sanduhr hinabsinkt, dann ist die Zeit abgelaufen, da muss kein Tod kommen, kein Sensenmann. Das Leben endet mit dem letzten Funken. Warum können wir das so schwer akzeptieren? Warum schufen wir den Sensenmann als großen Scharfrichter? Der Tod ist unsere Erfindung, weil wir IHN brauchen, damit wir nicht selbst für unseren eiligen Lebenslauf verantwortlich sind, sondern IHM unsere unerfüllte Lebensplanung in die Schuhe schieben können. "Ich hätte ja noch alles zum Guten wenden wollen, aber da stand unvermittelt Gevatter Tod vor mir und zerriss meinen Lebensfaden."
Es ist selbstverständlich, Zeit nicht zu vergeuden, sondern maximalgenutzt einzuteilen. Da bleibt für die Strecke entlang des Staffelbachs nun mal nicht weniger als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Die Fahrt: Schnellstmögliche Bewegung von A nach Ω, ohne Lebenszugewinn. Dabei haben wir doch so wunderbare Autos erfunden, die laut Prospekt das Leben ungemein befreien, nebenbei auch den Schadstoffausstoß, weil Höchstgeschwindigkeit halt nicht abgasfrei zu haben ist. Freiheit auf schnurgeraden Straßen, von denen wir in die jeweilige Richtung nur die Hälfte benützen dürfen. Freiheit, das sind maximal vier Meter in der Breite auf einer Straße, der wir nur in vorgegebene Richtung folgen können, mit einer gesetzlichen Geschwindigkeitsbegrenzung. Wenn so Freiheit aussieht, was ist dann Unfreiheit. Aber da ist ja der Fahrspaß. Die Möglichkeit, das Auto im Rahmen der erlaubten Geschwindigkeit und vielleicht etwas darüber hinaus zu beschleunigen, das ganze vielleicht noch mit einem SUV, um es noch ein bisschen weiter ad absurdum zu führen. Das Schoßhündchen im Käfig gegen eine Raubkatze zu tauschen.
Ob es ein Leben nach dem Tod gibt und wie es aussieht, ist vermutlich höchst unabhängig von irgendeiner Religionszugehörigkeit. Dass die katholische Kirche Seelen im Jenseits durch Selig- und Heiligsprechung nach oben befördert, mag für die Lebenden eine Placebowirkung haben und es ist harmlos. Wenn aber Mord und Todschlag zur Verherrlichung Gottes begangen werden, weil man sich dazu berufen fühlt, die eigene Religion über alle anderen zu erheben, dann ist das wohl das vernichtendste Zeugnis, das man dieser Religion ausstellen kann.
Das Leben anderer zu beenden hat so viele Facetten. Manchmal genügt schon der Kauf eines billigen Kleidungsstücks, für das jemand von einer kambodschanischen Produktionsruine verschüttet wurde. Oder eine günstige Lederjacke, für die ein indischer Gerber den Preis des frühen und qualvollen Todes bezahlt hat. Jedes Jahr werden junge Bikerorgane verpflanzt, die sie gerne selbst behalten hätten, währen sie nicht den Freiheit versprechenden Slogans der Zweiradbranche verfallen. Im Prinzip genügt also schon eine zündende Werbeidee um jemanden auf dem Gewissen zu haben. Natürlich hat der Biker selbst den Gasgriff aufgerissen und die kambodschanische Näherin hätte sich ja ebenso für Prostitution entscheiden können, seltener für eine andere Möglichkeit. Und der Selbstmordattentäter? Er hätte wohl die Schrifttexte besser vollständig und mit Verstand gelesen.
Aber dafür lässt unsere Zeit keine Zeit, wir sind zeitlos und müssen immer mehr Dinge im Auge behalten, den E-Mail-Account, Facebook, WhatsApp und Twitter, die Aktienkurse und die Spielergebnisse und schließlich ist da auch noch die Arbeit, das Fitness-Studio, der Therapeut, der Finanz- und Versicherungsberater, die Ernährungsberaterin und die unmöglich zu verpassenden Kochsendungen. So viele "sehr wichtige" Bereicherungen meines Lebens, da muss man schon auf einen straffen Zeitplan achten, deshalb ist es auch so wichtig, mit mindestens maximal erlaubter Geschwindigkeit am Staffelbach vorbei zu rauschen denn dann haben wir eine Gemeinsamkeit mit dem altmodisch mäandernden Bach. Mäandern ist eben nur etwas für Trödler und Zeitvergeuder, die zu viel ihrer wertvollen Zeit ungenutzt den Bach runter laufen lassen.