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Hinterfotzing

Verquerte Wirklichkeit

"Was ist Wahrheit?" war die retorische Frage des römischen Präfekten Pontius Pilatus auf die Bekundung Jesu, dass er Zeugnis ablege für die Wahrheit. Wahrheit ist schwer festzumachen, sie ist eine subjektive Feststellung. Des einen Wahrheit ist des anderen Irrtum. Deshalb ist Wahrheit ein freies Gut und niemand kann im Besitz der Wahrheit sein. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer halten wir die Propaganda der DDR für Falschheit, dabei galt sie 40 Jahre als Wahrheit für nicht wenige Menschen. Wenn Ideologie als Wahrheit verkauft wird, ist sie meist falsch, das hätten die Menschen eigentlich aus dem 3. Reich lernen können. Gibt es eine objektive Wahrheit? Rein objektiv betrachtet gibt es sie natürlich. Denn wer im verkehrszeichenfreien Raum von links kommt, muss die Vorfahrt beachten und doch kann es triftige Gründe geben, drauf los zu fahren. Das Blaulicht auf dem Dach ist dabei als Legitimation gar nicht erforderlich. Wenn man auf abschüssiger Straße vor einem Lkw fährt, dessen Bremsen versagten, wird man sicher nicht an einer unbeschilderten Kreuzung halten, um nach bevorrechtigten Fahrzeugen von rechts Ausschau zu halten. Also sind wir grundsätzlich dazu bereit, geltendes Recht zu missachten, wenn es die Umstände gebieten. Aber außerhalb solcher Extremsituationen sind wir eigentlich nicht willens, uns regelverstoßend zu verhalten und schon gar nicht das zu dulden. Es ist gut, dass es Regeln gibt, denn Regeln regeln - wie der Name schon sagt - Lebenssituationen, so dass man Handlungsmuster für eine einfache Lösung hat. Unser Leben ist geregelt. Wir unterwerfen uns Regeln und Gesetzen. Leider haben wir uns zu bedingungslosten Gesetzerfüllern entwickelt, zu funktionierenden Staatszugehörigen, die sich in das System bestmöglich einfügen. Die Gesetze und Vorschriften zu hinterfragen, empfinden die meisten schon als Verstoß. Dass wir als Autofahrer an der Fußgängeampel brav stehen bleiben, bis grün kommt, obwohl offensichtlich ist, dass der Ampelbetätiger längst überquert hat und weit und breit kein weiterer in Sicht ist, ist so eine typische Situation. Dieses Unvermögen der eigenen Entscheidung ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass der Herr Uniformierte keinerlei Entscheidungsspielraum bei Ampelrot hat. Er würde bedingungslos zuschlagen. Also bleiben wir stehen und verschwenden wertvolle Lebenszeit, weil die Regeln uns vor roten Ampeln ohne Ausnahme festsetzen. Nur ein Beispiel von vielen. In unserem Land muss alles geregelt sein und geraten wir mal in eine ungeregelte Situation, dann verbreitet sich sofort Unsicherheit und schnell findet sich eine Versicherung, die uns gegen Entgelt wieder rechtlichen einwandfreien Boden verschafft.

Unsere sozialen Kontakte werden virtualisiert. Wir treffen uns auf Facebook. Dort knüpfen wir unsere Beziehungsnetze und schließen Freundschaften. Facebook hat den Begriff Freundschaft völlig neu definiert, umgeformt. Freundschaft ist unkompliziert, man kann sie wegklicken. Freundschaft zu völlig unbekannten schließen ist völlig normal. Vielleicht gibt es diese Unbekannten gar nicht, vielleicht sind sie nur ein virtuelles Konstrukt, von einem Programmierer erfunden und mit menschlichen Verhaltensmustern ausgestattet. Eines Tages ist vielleicht unser ganzes Umfeld virtuell, der Arbeitsplatz, die Firma, die Freunde und der Schwindel fliegt erst auf, wenn die virtuellen Freunde den Sarg zur letzten Ruhestätte nicht tragen können, weil sie in der virtuellen Welt gefangen sind und der nächste Serverausfall ihr eigenes Ende besiegelt. Aber mit der Virtualfriendsoftware können jederzeit beliebig viele neue Kontaktpersonen erzeugt werden. Die Schnittstelle zur Welt ist ein handgroßes Display, das unsere Augen stets im Blick haben, alles außerhalb des Displays ist Bildschirmhintergrund. Und das alles hat sich völlig freiwillig entwickelt, weil die Technik vor der Sucht als "must have" angepriesen wurde. Sehr viele Spezialisten beschäftigen sich damit, wie die Menschen immer weiter in die digitale Abhängigkeit gelockt werden können und sie sind sehr erfolgreich darin. Über alle Bevölkerungsschichten werden Unsummen zur Befriedigung der digitalen Sucht ausgegeben. Stets liegt das Phone im Blickfeld und hat oberste Priorität im Aufmerksamkeitsspektrum. Sogar im Oktoberfestdelirium wird noch gepostet. Nur ein leerer Akku setzt uns der Realität aus, in der wir verzweifelt eine Steckdose suchen, um schnell wieder virtuell zu werden.

Freilich, für die finale Lebensphase sind die sozialen Netzwerke ein unheimlicher Segen. Es wird keine Vereinsamung mehr geben, denn das Bluetooth-Headset verbindet uns mit all unseren Freunden. Sie brauchen sich nicht vor dem Betreten demenzdurchsetzter Altersheime grauen, weil virtuell alle Endmenschlichkeit ausgeklammert ist und bei Demenz der Freundschaftsstatus ohne Schwierigkeiten beendet werden kann. Bis zur Lebensendphase haben wir uns so daran gewöhnt, die Welt virtuell zu erleben, dass wir die Realität gar nicht mehr brauchen, ja vielleicht nicht mal bemerken, dass wir schon jahrelang im Pflegebett liegen, weil unser Erleben längst außerhalb der Realität stattfindet. Und wenn wir den finalen Schritt machen, ist es vielleicht der Eingang in die virtuelle Welt, in der wir so lange "ewig leben" dürfen, als unsere Nachkommen das Benutzerkonto aufrecht erhalten. Erst dann bekommt Gott uns.