Zeitgeist
Vermutlich lag es an der sonnenherbstlichen Witterung, dass der Friedhof von Hinterfotzing an Allerheiligen mit einer unüberschaubaren Menschenmasse überschwemmt wurde. Noch kommen alle zu Fuß, aber der Totengräber weiß, dass der finale Besuch all dieser Menschen liegend erfolgt und sie dann hinunter müssen und ihm stand angesichts des schier unüberschaubaren Zahl, die er unter sich bringen muss der Angstschweiß auf der Stirn. Der Hinterfotzinger Friedhofschor gestaltete den Gräbergang gesanglich mit Liedern, die jede Hoffnung auf eine Auferstehung im Keim erstickten. Wie sagte Mahatma Ghandi über die Christen: "Ich finde, sie müssten fröhlicher sein." Aber daran liegt der Kirche nicht viel. Sie will die Christen sündig und schlecht haben, die jeden Tag Gutes unterlassen und Böses tun und aufgrund ihrer tiefen Schuld ständig der Vergebung und damit der Kirche bedürfen. Es ist immer wieder erstaunlich, dass sich doch noch etliche Christen in die Kirchen begeben, nur um in den Sumpf der eigenen Schlechtheit gedrückt zu werden.
Im Konzil keimte eine neue Kirche auf, die in den Siebzigerjahren viel Freude und Leben in die Gotteshäuser brachten. Da gab es Priester, die wie normale Menschen aussahen. Heute laufen sie im Kaftan (oder war es Talar und Soutane?) durch die Gegend, um nur ja nicht mit den sündigen Menschen verwechselt zu werden. Erstaunlicher Weise glauben sie, damit durchzukommen. Doch der Zeitgeist, den sie so gerne verteufeln, der wird sie eines Besseren belehren. Der Zeitgeist wird gerne als die große Versuchung dargestellt. Aber der Zeitgeist ist der Geist der Zeit, ist unser Geist, also die Quersumme unserer Vorstellungen und Einstellungen. Wenn der Zeitgeist falsch ist, dann sind wir falsch. Natürlich sind wir in einigem falsch, das lässt sich gar nicht vermeiden, aber wir liegen in den meisten Lebensbereichen richtig. Wir haben erkannt, dass überlieferte Praktiken falsch sein können, dass wir im Grunde alles hinterfragen dürfen und müssen. Das hat große Veränderungen in unser Leben gebracht. Unseren Großvätern wurde eingebläut, dass die Franzosen Feinde sind und sie schossen auf die Franzosen. Unseren Vätern sagten sie, dass die Amis gut und die Russen böse sind. Uns sagten sie, dass der Kapitalismus gut und alles andere schlecht ist. Aber wir erkannten, dass es nicht stimmt. Gut, nicht alle erkennen dies, aber jeder hat die Möglichkeit, die Scheuklappen abzulegen und die Augen zu öffnen.
Wer sich gegen die Aufnahme der Asylbewerber stellt, der hat nicht erkannt, worauf unser Wohlstand basiert und dass wir ihn nicht mit den Asylbewerbern teilen müssen, sondern diese Menschen vielmehr unseren Wohlstand sichern helfen. Der Zeitgeist hat uns zu einem sehr guten Leben geführt. Aber der Zeitgeist hat die Kirchen geleert. Stimmt nicht! Die Kirchen sind leer geworden, weil sie sich dem Zeitgeist widersetzt haben. Sich dem Zeitgeist zu widersetzen heißt, sich der Entwicklung zu widersetzen, heißt eigentlich, sich von den Menschen abzuwenden, denn sie sind der Zeitgeist. Jesus folgte dem Zeitgeist, denn er erkannte, dass sich etwas ändern muss. Auch die Kirche folgt dem Zeitgeist, aber es ist ein Zeitgeist aus dem ausgehenden Mittelalter, ein eingefrorener Zeitgeist aus der machtvollsten Epoche der Kirche. Für die Menschen war diese "Hochzeit" der Kirche nicht die beste. Was passiert eigentlich mit Menschen, die zu Priestern mutieren? Scheinbar fallen sie aus der Jetztzeit heraus und bekommen den von der Kirche bevorzugten mittelalterlichen Zeitgeist implantiert. Aus dieser Schar rekrutiert sich letztlich der gesamte Machtapparat der Kirche.
Stellt sich die Frage, was Gott vom Zeitgeist hält? Da Gott das gesamte Universum erschaffen hat, ein unvorstellbar großes System von Galaxien und Sonnensystemen, das sich ständig verändert und entwickelt, wollte er wohl auch die Entwicklung im Kleinen, also auch die Entwicklung auf unserer unbedeutenden Erde. Das Mittelalter auf der Erde war für Gott eine Episode in der Entwicklungsgeschichte, eine verschwindend kurze Etappe. Es wäre anmaßend zu denken, dass Gott die Kirche braucht. Aber dass die Kirche Gott braucht, ist existenziell und ebenso braucht die Kirche die Menschen. Aber die Menschen brauchen die Kirche nicht, vor allem dann nicht, wenn die Kirche die Bedürfnisse der Menschen nicht erfüllt. Die Bedürfnisse der Menschen, die sind Teil des Zeitgeistes, also täte die Kirche sehr gut daran, den Zeitgeist aus der Verbannung zu befreien und endlich auf ihn und damit auf die Menschen und die Anforderungen der Zeit einzugehen. Das Mittelalter gehört in den Geschichtsunterricht. Die Gegenwart gehört dem Zeitgeist.