Zeitvertreib
Die Lebenserwartung eines Mannes lag im Jahre 2011 bei knapp 78 Jahren. Das ist eine lange Spanne, wenn man sie vom Startpunkt aus betrachtet. Aber vom Startpunkt aus kann man ja die Lebenszeit gar nicht betrachten und selbst bei Schuleintritt ist diese Zeit so unendlich lang, dass eine Zeitgefühl unmöglich ist. Nach dem Sprung ins Erwerbsleben bleibt keine Zeit, sich des noch nicht gelebten Lebenslaufes allzu viel zu widmen. Die nimmt man sich erst, wenn man merkt, dass die erforderliche Zeit zur Umsetzung aller Pläne und Ziele wohl nicht mehr ausreichen wird, eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis, aber eine notwendige, denn die Zeit ist von da an wie alle knappen Güter kostbarer. Wohin reise ich mit den restlichen 30 Litern im Tank? Da fallen dann schon mal einige Ziele als außerhalb der Reichweite weg. Zur Steigerung der Reichweite kann man Ballast abwerfen, aber das erfordert Mut. Immerhin war dieser „Ballast“ viele Jahre ein Teil des Lebens, also wichtig. Schafft man es, dann kommt eine noch größere Herausforderung, denn es gilt die freien Kapazitäten frei zu halten und nicht sofort wieder mit anderem Ballast zu füllen. Denn viele bekommen den Abwerfvorgang mit und würden nur allzu gerne diese Freiräume für ihre Ziele nutzen. Da kann man noch so viele Jahre ehrenamtlichen Engagements geleistet haben, es zählt nur, was man noch leisten könnte. Der soziale Druck ist nicht zu unterschätzen, denn man war ja immer sooo sozial eingestellt und nun wäre man es auf einmal nicht mehr. Eine egoistisch unsoziale Wolke beginnt einen zu umwehen, denn das Umfeld akzeptiert kein Genug, gerade darum muss man die entrümpelte Burg standhaft verteidigen.
Die meiste Zeit unseres Lebens gehört der Arbeit, zumindest solange wir im Berufsleben stehen. Das ist eine sehr wichtige Zeit, denn sie macht uns für die Gemeinschaft wichtig. Wir erarbeiten mehr als unseren Lebensunterhalt und leisten damit unseren Bildungskredit ab, löhnen für die Leistungen des Staates und schaffen uns einen Bonus für das Alter. Ohne diesen Tribut gäbe es unser Gemeinwesen nicht, deshalb sollte man sich in Hochachtung vor den Baumeistern dieses Systems verneigen. Erst unser Staats- und Wirtschaftssystem schenkt uns ausreichend Freiheit für eigene Ziele. Wer über seine Mängel schimpft, sollte ebenso seine Vorteile loben und dann vielleicht abwägen, welche Seite überwiegt und überlegen, ob es Menschen überhaupt möglich ist, Fehlerfreies zu schaffen.
Vor und nach der Arbeit kommt die Familie, zumindest ist das der gängige Lebensplan. Es wird viel darüber disputiert, Familie und die daraus hoffentlich resultierenden Kinder als Leistung an der Gemeinschaft zu betrachten und entsprechend zu honorieren, aber das reduziert Familie zum Beitrag am Bruttosozialprodukt. Der Reichtum, den Kinder und Enkelkinder schenken, ist mit keinem Geld der Welt zu berechnen. Trotzdem wäre es angebracht, die Familien finanziell so zu stellen, dass sie den Singles zumindest gleichgestellt werden, noch besser einen Vorteil haben. Denn es wäre schon sehr gut, wenn sich Familien mit Kindern das ebenso leisten können, was Singles für selbstverständlich erachten. Den Grund, sich des Luxus willen gegen Familie zu entscheiden, sollte es nicht geben.
Reduziert sich der Familienstand nach der Elternbeiratszeit wieder zum Duett mit gelegentlichen Kinderbesuchen, kommt viel zeitliche Freiheit und man weiß diese Zeiten schnell und angenehm mehr oder weniger sozial zu nutzen. Gerne schlagen in dieser Phase die Vereine zu und schnappen sich schlaraffenartig möglichst viel vom großen Kuchen. Ein legitimer Vorgang, denn was wäre der ländliche Raum ohne Vereine? Und gerne stellt man sich der sozialen Aufgabe und bringt sich mit Zeit, Ideen und Tatkraft ein. Neue Kontakte werden geknüpft und man erreicht eine neue und andere Wichtigkeit, einen Stand, der den Berufsstand überdauern wird. Anstandshalber geht man mit seinem Verein bei den Beerdigungen mit, weil der Verblichene, den man persönlich nicht mehr kannte, dem Verein viele Jahre treu angehörte, ein Band, das die Kluft der fehlenden Bekanntschaft überspannt. Stirbt der erste bekannte Vereinskamerad, stellt man das ein wenig irritiert fest, wähnt sich aber absolut auf der sicheren Seite. Aber es werden mehr und die Unbekannten seltener, bis dann überhaupt kein Unbekannter mehr dabei ist und die Erkenntnis heranreift, dass die Warteschlange am Himmelstor deutlich kürzer geworden ist und demnächst die vorderen Plätze frei werden.
Diese Einsicht kommt nicht als erschreckender Gedanke, denn Leben kann nur kostbar sein, wenn es begrenzt ist. Ab welchem Alter man dies erkennen kann, ist vermutlich nicht eindeutig zu bestimmen, denn das Leben währt wirklich lange. Vielleicht ändert sich der Eindruck der Zeitspanne auch mit der Geschwindigkeit des Erlebens. Dass es nur so dahinrennt, wenn man mit Saft und Kraft und noch mehr Ideen durch die Tage rennt. Vielleicht schleicht es einmal nur mehr langsam, wenn die Kräfte geschwunden und erinnert sich wehmütig an den Lebensgalopp. Was dann nicht getan ist, bleibt ungetan. Deshalb ist es wichtig, womit man sich seine Zeit vertreibt.